Athletic Bilbaos einzigartige Philosophie, ausschließlich Spieler in den eigenen Reihen zuzulassen, die entweder in der heimischen Region geboren oder ausgebildet wurden, bringt dem baskischen Kult-Klub den Respekt der gesamten Fußballwelt ein. Wie schon häufiger in der über 120-jährigen Vereinsgeschichte gab es bei Athletic zuletzt aber hitzige Diskussionen rund um diese Selbsteinschränkung: Während manche die Philosophie in der Hoffnung auf bessere sportliche Aussichten gerne modifizieren würden, pochen andere darauf, sie um der Tradition willen wie gehabt beizubehalten.
Dilemma zwischen Tradition und sportlichen Ansprüchen
Bibiane Schulze Solano (21) ist Tochter einer Baskin, Enkelin der Athletic-Legende José María Belaustegigoitia alias Belauste und quasi folgerichtig seit Kindestagen Bilbao-Fan. Dennoch hatten einige bei Athletic ein Problem damit, als sie im Sommer des vergangenen Jahres vom 1.FFC Frankfurt zum zweiten Frauen-Team der Rojiblancos (Spanisch für: die Rot-Weißen) wechselte. Die Traditionalisten protestierten gegen die Entscheidung des Vorstands, für Schulze Solano eine Ausnahme bei der Auslegung der Klub-Philosophie zu machen. Wäre es nach der gegangen, hätte die in Deutschland geborene und ausgebildete Mittelfeldspielerin nämlich nie das rot-weiße Dress Bilbaos tragen dürfen.
Wir wussten, dass es Fans geben würde, die gegen den Wechsel sind. Dass es so groß diskutiert wurde, war für mich und viele meine Familienmitglieder aber doch ein Schock – Bibiane Schulze Solano im Gespräch mit Linners LaLiga-Lexikon über die Aufregung nach ihrem Wechsel nach Bilbao.
Das darf laut dem Vereins-Statut nur, wer in Euskal Herria (bestehend aus den spanisch-baskischen Provinzen Bizkaia, Gipuzkoa, Àlava, Navarra und den französisch-baskischen Regionen Labourd, Soule und Basse-Navarre) geboren oder fußballerisch ausgebildet wurde – was Athletic in der 120-jährigen Vereinsgeschichte sportlich immer wieder zu schaffen gemacht hat. So auch in letzter Zeit, wie Alfonso Herrán von der spanischen Sportzeitung AS erklärt: „Einige wichtige Spieler sind schon recht alt. Mit dem eigenen Nachwuchs kann man die nur bedingt ersetzen. Und die Zeiten, in denen Athletic als reichster Klub des Baskenlands einfach die besten Spieler von Real Sociedad, Alavés, Éibar oder Osasuna gekauft hat, sind vorbei. Die regionale Konkurrenz ist wegen der hohen Fernsehgelder finanziell ganz anders aufgestellt als früher. Heute ist alles ausgeglichener“, so der Bilbao-Reporter zu Linners LaLiga-Lexikon.
Aus diesen Gründen kann Athletic schon lange nicht mehr an die Erfolge vergangener Tage (acht Meisterschaften, 24 Pokalsiege) anknüpfen. Seit der Saison 1983/84 konnte man, die beiden spanischen Supercups ausgenommen, keinen großen Titel bejubeln. Mehr noch: In den letzten Jahren rutschte man aus den oberen Tabellenregionen immer wieder ins Mittelmaß ab, steckte 2018/19 bis zur Winterpause sogar knietief im Abstiegskampf. Um die sportliche Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und idealerweise zu verbessern, bereitet Athletic-Präsident Aitor Elizegi (53) seit seiner Wahl im Dezember 2018 das Feld für eine Modifizierung des Klub-Statuts. Herrán:„Elizegi führt vereinsintern, aber auch mit Fanklubs, immer wieder Gespräche deswegen. Er glaubt, dass es sinnvoll wäre, die Klub-Philosophie für Kinder baskischer Eltern zu öffnen. Unabhängig davon, wo diese geboren oder ausgebildet wurden.“ Gut möglich, dass die Durchsetzung des Transfers von Bibiane Schulze Solano der jüngste Schachzug des Athletic-Präsidenten in dieser Sache war. Deswegen auch der helle Aufschrei der Traditionalisten im Klub und dessen Umfeld. Eine Modifizierung des Vereins-Statuts würde für sie den Verlust der Identität bedeuten. Und diese ist ihnen heilig, viel wichtiger als der sportliche Erfolg.
Eine Sache der Interpretation
Weil das aber seit jeher nicht alle bei Athletic so gesehen haben, ist die aktuelle nicht die erste Debatte um die Auslegung des lange Zeit ungeschriebenen Vereins-Gesetzes. Jeder der unzähligen Anpassungen ging eine voraus. Zum Beispiel als 1956 der damalige Athletic-Trainer Ferdinand Daucik um die Verpflichtung des in Äquatorialguinea geborenen Miguel Jones (81) bat. Der Verein verwehrte Daucik diesen Wunsch, so bestätigte es der Spieler selbst in einem Interview mit der Sportzeitung EL DESMARQUE im September 2013, weil Jones zwar im Baskenland ausgebildet worden, allerdings nicht in der Region Bizkaia zur Welt gekommen war. Und das war damals die unverhandelbare Bedingung, um für Los Leones (Spanisch für: die Löwen) spielen zu können.
Dass Miguel Jones 1956 wegen seiner dunklen Hautfarbe nicht bei Athletic aufgenommen wurde, ist ein Mythos. 2013 sagte Jones im Interview mit EL DESMARQUE: „Das mit meiner Hautfarbe ist Quatsch.“
Eine ähnliche Interpretationsfrage stellte sich beim Franzosen Bixente Lizarazu (50). Bei seiner Verpflichtung aus Bordeaux argumentierten Athletics Entscheidungsträger findig, dass der Linksverteidiger Saint-Jean-de-Luz stammt, somit in die nationalistischen Definition des Baskenlands passt und deshalb keinen Verstoß gegen die Klub-Philosophie verkörpert. Der Weg der baskischen Franzosen zu Athletic, wie er noch heute Bestand hat, war eingeweiht. Andere Zeiten, andere Kompromissbereitschaft. So zieht sich das durch die Geschichte von Athletics Philosophie. Wohl nicht ohne System: Denn je schwieriger Bilbaos personelle Situation, desto großzügiger wurde meist die Interpretation der eigenen Regeln.
Dementsprechend sucht Aitor Elizegi im Spätherbst der Karrieren von Aritz Aduriz (39), Beñat Etxebarria (33), Raúl García (33) mangels Alternativen eine Möglichkeit, Athletics Wettbewerbsfähigkeit mit einer Statuten-Änderung zu bewahren. Wohlwissend dass er deswegen heftigen Gegenwind bekommen wird. Aber eben auch Zuspruch: Wie den von Bibiane Schulze Solano, deren Fall gezeigt hat, wie das Athletic der Zukunft aussehen könnte: „Ich finde die Philosophie super, sie macht den Klub einmalig. Ich hätte es sogar verstanden, wenn man mir gesagt hätte, dass mein Fall zu kritisch für einen Wechsel ist. Aber ja, die Regeln für Fälle wie meinen auflockern fände ich gut.“ Den Grundstein dafür hat die Deutsch-Spanierin selbst gelegt.
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